Es riecht nach Gefühl und Erinnerung

Aber nicht immer nach Veilchen und Lavendel: Im Sommer 1985 brachte Christian Dior das Parfüm „Poison“ auf den Markt. Alles daran war viel. Viel Gewürz. Viel Pflaume. Viel Weihrauch. Viel Holz und Orient. Auch die Poison-Frau war aufgefordert, viel zu sein. Wild, mutig, präsent, sich Gehör verschaffend, von sich selbst berauscht und andere überwältigend. Letzteres war mit einem kräftigen Sprühstoß aus dem bauchigen dunkellila Flakon tatsächlich nicht allzu schwer. Dieser Duft war von Natur aus überdosiert und er schaffte bleibende Erinnerungen – ebenso wie Omas Milchreis. Das können wir uns beim Schreiben zu Nutze machen.

Mit Rosenholz und Pflaume durch die 1980er

Müsste ich eine Samstagnacht Mitte der 1980er Jahre beschreiben, ich würde mir einige Tropfen Poison in die Nase träufeln und loslegen. Es würden beim Schreiben dichte Schwaden aus Trockeneis um mich wabern und Melodiefetzen von Depeche Modes „Just can’t get enough“ von Weitem herüberwinken. Ich könnte den Motor meines VW-Käfers über die Landstraßen in die nächste Kreisstadt-Disco brummen hören. Und ich würde sehr genau wieder spüren, wie es sich damals angefühlt hat, in der Samstagnacht, als nicht wilde und nicht mutige, aber duftgepanzerte 18-Jährige.

Der Proust-Effekt und unsere Erinnerung

Bei Proust rezipiert sich das mit dem Geruch und der Erinnerung deutlich feiner. In seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sind es der Duft und Geschmack von in Lindenblütentee getauchten Madeleines, die dem Protagonisten unerwartete Erinnerungen an die Kindheit und der Neurowissenschaft einen neuen Effekt bescherten: den Proust-Effekt. Als der Ich-Erzähler ins Gebäck beißt und einen Schluck Tee nimmt, geschieht nämlich folgendes:

In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.

Szenen aus Wintertagen als Kind in Combray und Erinnerungen an die Mutter blitzen aus dem Nichts auf. Wie vom Donner gerührt, versteht er, dass Erinnerung und Empfindung nicht willentlich entstanden sind, sondern durch sinnliche Erfahrung unwillkürlich auftauchten. Herbeigeführt durch Geruch und Geschmack.

Wer über einen intakten Geruchssinn verfügt, kennt den Proust-Effekt. Der Duft von alten Büchern, das Waschmittel, mit dem die Mutter immer die Bettwäsche gewaschen hat, Zimt auf Milchreis und vor allem Vanille. Welcher Geruch für uns duftet, riecht oder gar stinkt, lässt sich übrigens nicht einheitlich festlegen. Geruchswahrnehmungen hängen ab von unseren individuellen oder kulturellen Erfahrungen und von Empfindungen, die wir beim Kontakt mit einem Geruch gespürt haben. Ein Geruch ist für uns das, womit wir ihn assoziieren und verknüpfen.  

Vom Riechen zum Erinnern

Der Schlüssel zur Verbindung zwischen Duft und Erinnerung liegt in der besonderen Anatomie unseres Gehirns. Anders als andere Sinneseindrücke gelangen Gerüche auf direktem Weg von der Nasenschleimhaut, über den Riechkolben ins limbische System, dem Emotionszentrum unseres Gehirns. Der gesamte Vorgang ist im sogenannten Riechhirn (Paleocortex oder Paläocortex) verortet, einer Hirnregion, die nur für den Geruchssinn zuständig ist. Entwicklungsgeschichtlich ist der Paleocortex der älteste Teil unseres Gehirns. Auch seine Funktion ist evolutionär begründet. Geruch ist eine wichtige Informationsquelle, die vor Gefahren warnt, bevor wir diese über andere Sinne wahrnehmen können: Rauch, ungenießbare oder verdorbene Lebensmittel, wilde Tiere.

Wie das Gehirn Düfte entschlüsselt

Wenn der moderne Mensch Rauch erschnüffelt, an einem Parfümflakon oder einem Stück Zimtrinde riecht, werden die Geruchsmoleküle von Rezeptorzellen im Riechepithel der Nasenschleimhaut registriert, zu Geruchsmustern zusammengesetzt und in elektrische Impulse umgewandelt. Täglich bilden sich neue Geruchssinneszellen, die absterbende Zellen ersetzen. Die Signale der Rezeptorzellen erreichen zunächst den Riechkolben (Bulbus olfactorius), der alle Informationen über den Duft direkt weiterleitet an die nächstgelegenen Hirnareale, das limbische System. Dort wird der Geruch identifiziert und bewertet sowie mit Orten und Erlebnissen verknüpft.

Im Gegensatz zu anderen Sinneseindrücken wie Hören oder Sehen, gelangt die Duftinformation somit direkt ins limbische System ohne zuvor vom Thalamus, dem Tor zu unserem Bewusstsein, gefiltert worden zu sein. Im limbischen System, werden die Dufterlebnisse schließlich emotional verarbeitet und mit Erinnerungen verknüpft. Zuerst in der Amygdala, zuständig für Emotionen und dann im Hippocampus, verantwortlich für die Bildung von Erinnerungen.

Die unvermeidbare emotionale Reaktion auf jeden Duft

Durch die direkte Verbindung von Riechhirn und limbischem System wird somit jeder Geruch unweigerlich mit Gefühlen verbunden und zugeordnet sowie positiv oder negativ bewertet. Sofern keine Riechstörungen medizinisch diagnostiziert sind, ist es nicht möglich Gerüche neutral wahrzunehmen. Und: Gerüche wirken unmittelbar, was erklärt, warum sie so starke emotionale Reaktionen und Erinnerungen auslösen können:

  • Der Mensch soll rund 10.000 Gerüche unterschieden können.
  • Durch Gerüche hervorgerufene Erinnerungen sind oft besonders intensiv und lebendig.
  • Sie können weiter in die Vergangenheit zurückreichen als Erinnerungen, die durch andere Sinne ausgelöst werden.
  • Am stärksten soll diese Wirkung durch den Vanilleduft hervorgerufen werden, der in der Muttermilch vorkommt.
  • Da Geruchsinformationen direkt und ungefiltert ins Gehirn gelangen, können sie Erinnerungen und Emotionen hervorrufen, noch bevor wir den Geruch bewusst wahrgenommen haben.
  • Die direkte Verbindung zwischen Geruchssinn und Hippocampus, unserem Gedächtniszentrum, ermöglicht zudem eine besonders effektive Speicherung und einen leichteren Abruf von Erinnerungen.

Hier spielt die Erinnerung

Düfte und Erinnerungen im eigenen Text

Hier sind zwei Möglichkeiten, wie du die Erkenntnisse der Hirnforschung über den Zusammenhang von Düften, Emotionen und Erinnerungen für deine Schreibprojekte nutzen kannst. Und eine kleine Schreibroutine zum Ausprobieren, wenn du Lust hast.

Atmosphäre schaffen: Durch gezielte Beschreibung von Düften lässt sich eine immersive Atmosphäre erzeugen. Ob du den Duft von gebrannten Mandeln auf dem Weihnachtsmarkt beschreibst, oder den der frischen Birnentarte mit Lavendel in der Provence – Düfte können Leser*innen direkt in die Szene versetzen, wenn du es schaffst ihre Assoziationen zu wecken.

Kulturelle Kontexte vermitteln: Weil Geruchswahrnehmungen auch kulturell geprägt sind, kannst du Düfte nutzen, um fremde Kulturen oder historische Epochen authentisch darzustellen.

Duftliste für Emotionen:

    • Wähle eine Emotion (Trauer, Freude, Wut …).
    • Erstelle eine Liste von Düften, die diese Emotion hervorrufen oder verstärken könnten:
      • Freude: Zitrusfrüchte, frisch gebackener Kuchen
      • Trauer: Regen, verwelkte Blumen
    • Beschreibe, wie der Duft die Emotion beeinflusst oder welche Erinnerungen er weckt
      • Schreibe, ohne zu zensieren oder zu korrigieren.
      • Lasse deinen Assoziationen freien Lauf.
      • Traue dich zu Experimentieren

Quellen und weitere Informationen:

Beck,Henning;  Anastasiadou,Sofia; Meyer zu Reckendorf, Christopher: Faszinierendes Gehirn – Eine bebilderte Reise in die Welt der Nervenzellen, Springer Berlin Heidelberg 2018

Aqrabawi, A.J., Kim, J.C. Hippocampal projections to the anterior olfactory nucleus differentially convey spatiotemporal information during episodic odour memory. Nat Commun 9, 2735 (2018). https://doi.org/10.1038/s41467-018-05131-6

Stangl, W., Proust-Effekt. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/15875/proust-effekt (Zugriff: (9. Dezember 2024)

Proust, Marcel (1974). Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: In Swanns Welt 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp (nach Stangel, 9. Dezember 2024)

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