
Von der Hand in den Kopf
Laptops zu, Papier und Stifte auf den Tisch: Das Erste, was Studierende in meinen Seminaren erfahren ist, dass sie direkt nach der Kennenlernphase ihre Handgelenke ausschütteln müssen. Zuvor haben sie sieben Minuten am Stück mit der Hand geschrieben. Kein Stopp. Absetzen und nachdenken gilt nicht! Auf jedes „Puhhh“ und jedes „Boah-war-das-anstregend“ folgt die zweite Erfahrung: „Wahnsinn, was mir alles eingefallen ist.“ Ab da kann es losgehen, die Studierenden sind neugierig geworden und die meisten haben jetzt Lust, sich im Schreiben auszuprobieren. Für anstehende wissenschaftliche Arbeiten, nicht die schlechteste Basis. Schreiben mit Papier und Stift ist ein entscheidender Bestandteil meiner Lehre und das hat mehr als einen guten Grund.
Wer schnell wissen möchte, wie sich das Schreiben mit der Hand positiv auf das Lernen, Texten und wissenschaftliche Arbeiten auswirkt, der findet ab Kapitel 2 die passenden Informationen. Wer vorab noch ein bisschen bei mir bleiben möchte, den lade ich ein, sich mit mir zu erinnern, welche Tücken aber auch Vorteile das Schreiben in vor-digitaler Zeit mit sich brachte.
Mit der Olympia durchs Studium
Knallorange mit weißer Kunststoffabdeckung. Meine erste Schreibmaschine war eine Olympia Traveller de Luxe. So stand sie irgendwann in meinen Teenagerjahren unter dem Weihnachtsbaum. Mechanisch, farbenfroh und bald mit Tipp-Ex verziert. Kurz darauf ging es nach Frankfurt zum Studieren. Ich zog mit Schreibmaschine, Tipp-Ex-Blättchen und immer einem Farbband auf Vorrat in die Stadt, füllte Tagebücher in Schönschrift und mühte mich für Referate und erste Zeitungsartikel auf der Olympia ab. Meist war auf der Rolle Durchschlagpapier eingespannt – für die Vervielfältigung auf dem Matrizendrucker des Instituts. Durchschlagpapier verzeiht keine Tipp-Ex-Korrekturen, sondern hinterlässt auf der Rückseite ein spiegelverkehrtes Wirrwarr übereinander gesetzter Buchstaben, was dann genauso vervielfältigt wird. Das Papier, mit dem mich die Zeitungsredaktion versorgte, hatte anderen Tücken. Es war in Spalten unterteilt und zeilenweise durchnummeriert.
Ohne Vorschreiben kein Tippen
Sich einfach hinzusetzen und munter darauflos zu tippen, war also in jedem Fall riskant. Denn jeder Tippfehler, jeder ungelenke Satz, jeder krumme Gedanke hatte zur Folge, dass der in der Schreibmaschine eingespannte Bogen seinen Wert verlor und zusammengeknüllt im Papierkorb landete. Im zweiten Anlauf waren gute Einfälle dann gerne vergessen und verloren. Also mussten Texte vorab gut durchgeplant sein. Vorschreiben, das lernte ich schnell, sparte sowohl Zeit als auch Nerven.
Irgendwann zeigte mein Vater ein Erbarmen und überließ mir seine damals unerhört fortschrittliche Panasonic Electric Typewriter R315, im Jahr 1988 frisch mit dem IF Design Award ausgezeichnet. Dieses schneidige Wunder konnte eine ganze Zeile auf dem Display vorplanen und eine ganze Zeile rückwärts löschen. Was für ein Luxus. Das Problem mit dem Durchschlagpapier verschärfte sich genau genommen noch. Denn jetzt tippte ich schneller und damit fehleranfälliger. Für meine Magisterarbeit stand mir schließlich ein ganzes verlängertes Wochenende lang ein Computer zur Verfügung. Von Samstag bis zum Feiertag am Dienstag, Allerheiligen, kämpfte ich durchgehend an zwei Fronten – mit der Technik und gegen die Müdigkeit. Mir war schon vorher klar gewesen, dass an diesem Wochenende nichts verschenkt werden durfte. Also war jede der 180 Seiten, die ich anschließend zum Binden brachte, mit der Hand vorgeschrieben. Die Blätter liegen noch heute in einer Umzugskiste im Keller.
Die Handschrift als Werkzeug
Richtig Schreiben, Gedanken stringent strukturieren, Inhalte verstehen und verständlich formulieren, habe ich durch das permanente Vorschreiben gelernt. Auch in meinem späteren Journalistinnenleben habe ich immer und ausschließlich sehr viel notiert. Bis ich nach Presseterminen wieder am Schreibtisch saß, hatte mein Kopf die notierten Informationen nach Relevanz sortiert, vorverarbeitet und in erste Beziehungen gesetzt. Bei tagesaktuellen Aufträgen genügte es oft, rasch meine Notizen zu überfliegen – vor allem, um Fakten oder Zitate zu kontrollieren. Das meiste war verinnerlicht und ich hatte genug Übung, um einen Rohtext fix einzutippen.
Heute bin ich bis unter die Haarwurzeln von digitalen Geräten dominiert und kann in jeder Lebenslage schnell etwas eingeben. Auch diesen Blogartikel habe ich mit der Hand nur vorstrukturiert und mir ein paar Notizen gemacht. Quellen und Studien sind in Ordnern und Sammlungen abgelegt.
Warum der Notizblock unersetzlich ist
Bei neuen Themen, die ich mir regelrecht erarbeiten muss, greife ich zu Stift und Papier. Ich notiere mir Erkenntnisse, Zahlen, Fakten, Menschen und ihre Aussagen, buntes Drumherum. Das lasse ich wirken. Setze es mit Kringeln und Pfeilen in Beziehung. Fertige Cluster an. So halte ich den Überfluss an Informationen in Zaum, fokussiere mich auf das Wesentliche und arbeite mich in die Tiefe des Themas.
Das ist kein Geheimrezept. Wer sich den Füller und ein Blatt Papier schnappt, weiß um die Vorteile des Notierens.
Was beim Schreiben mit Hand im Gehirn passiert
Folgendes Szenario: In einer Vorlesung mit Videovorträgen sitzen zwei Gruppen Studierende. Die einen tippen eifrig in ihre Laptops, die anderen kritzeln in ihre Notizbücher. Wer wird sich wohl besser an den Inhalt erinnern? Die Antwort lautet: die Kritzler und Notierer. Bei Studierenden führt nämlich einer Studie zufolge (Mueller & Oppenheimer, 2014) das Schreiben mit der Hand zu einer besseren Informationsverarbeitung, als das schnelle Tastaturschreiben. Der Grund dafür liegt nicht etwa in der Handschrift selbst, sondern in der Schreibgeschwindigkeit. Die langsameren Handbewegungen zwingen uns, Informationen stärker zu filtern und in eigenen Worten wiederzugeben. Beim Tippen hingegen neigen wir dazu, fast wörtlich mitzuschreiben, was zu einer oberflächlicheren Verarbeitung führt.
Doch was passiert eigentlich im Kopf, wenn wir zum Stift greifen? Das fanden Forschende der Universität von Trondheim heraus. Sie setzten 36 Studierenden eine Kappe mit Elektroden auf und ließen sie abwechselnd mit der Hand schreiben und tippen. Das Ergebnis? Beim Handschreiben zeigten sich deutlich stärkere Verknüpfungen zwischen verschiedenen Hirnregionen. Diese neuronale Konnektivität ist entscheidend für die Gedächtnisbildung. Die betroffenen Hirnregionen sind an den kognitiven Prozessen des Sehens und Erkennens, der Sprachbildung und der Bewegung beteiligt, berichten die Forschenden. Es scheint also, als würde unser Gehirn beim Formen von Buchstaben regelrecht aufblühen.
Die in Frontiers in Psychology veröffentlichten Ergebnisse sind ein echtes Plädoyer für den Griff zum Stift:
- Beim Handschreiben zeigte sich eine deutlich höhere Gehirnaktivität als beim Tippen.
- Insbesondere die Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen waren beim Handschreiben stärker ausgeprägt.
- Die Aktivität war besonders in den Bereichen erhöht, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung stehen.
Mehr als nur Buchstaben malen
Professorin Audrey van der Meer, Leiterin der norwegischen Studie, erklärt: „Handschreiben aktiviert fast das gesamte Gehirn im Vergleich zum Tippen, das das Gehirn kaum fordert. Das Gehirn wird beim Drücken von Tasten auf einer Tastatur nicht sehr gefordert, im Gegensatz zur Formung von Buchstaben von Hand.“
Die Vorteile des Handschreibens gehen über das bloße Merken hinaus. Beim Schreiben mit der Hand werden verschiedenen Untersuchungen zufolge über 30 Muskeln und 17 Gelenke (Schünke et al., 2005) koordiniert, was zwölf verschiedene Hirnareale (Planton et al., 2013) stimuliert. Darauf weist das Schreibmotorikinstitut hin. Diese umfassende Gehirnaktivierung hat Folgen: Handgeschriebene Texte sind oft komplexer strukturiert und kreativer. Die langsamere Schreibgeschwindigkeit zwingt uns, Gedanken sorgfältiger zu formulieren. Zudem fördert die körperliche Erfahrung des Schreibens die Konzentration und vertieft die Verbindung zum Text. Natürlich kann auch argumentiert werden, dass das Tippen schneller geht. Aber: Diese Texte bleiben oft oberflächlicher. Die Verführung, viele Informationen zu kopieren und einzufügen, schwächt das Verstehen und das eigene Formulieren von Ideen.
Ein Plädoyer für die Balance
Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für uns? Sollen wir alle unsere Laptops wegwerfen und zur Feder zurückkehren? Natürlich nicht. Vielmehr geht es darum, eine gesunde Balance zu finden. Für Studierende könnte das bedeuten, in Vorlesungen und wichtigen Gruppenarbeiten handschriftliche Notizen anzufertigen. Dies fördert nicht nur das Verständnis, sondern auch die Fähigkeit, Informationen zu filtern und in eigenen Worten wiederzugeben – eine Schlüsselkompetenz in der heutigen Informationsflut. Für Erwachsene im Berufsleben könnte es heißen, wichtige Ideen oder persönliche Reflexionen in ein Notizbuch zu schreiben. Die langsamere Geschwindigkeit des Handschreibens gibt uns die Möglichkeit, Gedanken zu ordnen und tiefer in Themen einzutauchen. Es geht also nicht um weiß und schwarz, sondern darum, sich Vorteile einer Methode bewusst zu machen und sich je nach Aufgabenstellung und Kontext für Blatt und Bleistift oder die Tastatur zu entscheiden. Von Großvaters mechanischer Schreibmaschine und einem Stapel Durchschlagpapier würde ich im Studierendenalltag allerdings abraten. Es sei denn, ihr wollt Paul Auster oder Woddy Allen nachspüren, die niemals die Schreibmaschinen gegen den Computer getauscht haben. Warum? Weil die Schreibmaschine eine langsame und sorgfältige Auseinandersetzung mit der Sprache und entschleunigtes Arbeiten ermöglicht. Und das lohnt sich zur richtigen Zeit einmal ausprobieren.
So punktet die Handschrift im Vergleich zum Tippen

Flüchtige Momente in Notizen – Eine Übung mit Stift und Block
Fassen wir zusammen: Mit der Hand zu schreiben klärt die Gedanken, trainiert das Gedächtnis, hilft Zusammenhänge zu verstehen. Es gibt also mehr als einen guten Grund, noch heute zu Block und Stift zu greifen und Dinge zu notieren. Damit du aber nicht vor deinem hübschen Notizbuch sitzt und ratlos am Stift kaust, hier eine kleine Schreibübung, mit der du deine Wahrnehmung schärfst und das spontane assoziative Schreiben förderst.
Das brauchst du: Ein kleines Notizbuch, am besten unliniert. Ein Stift, mit dem du gut schreiben kannst.
So geht es:
- Notiere täglich (Routine!) mindestens drei flüchtige Momente oder Beobachtungen.
- Konzentriere dich auf Details, die normalerweise übersehen werden.
- Beschreibe Sinneseindrücke, Gefühle, Gedanken oder Assoziationen.
- Schreibe, ohne zu zensieren oder zu korrigieren.
- Lasse deinen Assoziationen freien Lauf.
- Traue dich zu Experimentieren
Quellen und weitere Informationen:
R. (Ruud) van der Weel and Audrey L. H. van der Meer: Handwriting but not typewriting leads to widespread brain connectivity: a high-density EEG study with implications for the classroom, Frontiers in Psychology, 14/2024, DOI=10.3389/fpsyg.2023.1219945
Mueller, P. A., & Oppenheimer, D. M. (2014). The pen is mightier than the keyboard: Advantages of longhand over laptop note taking. Psychological Science, 25(6), 1159–1168. doi.org/10.1177/0956797614524581
Planton S, Jucla M, Roux FE, Démonet JF. The „handwriting brain“: a meta-analysis of neuroimaging studies of motor versus orthographic processes. Cortex. 2013 Nov-Dec;49(10):2772-87. doi: 10.1016/j.cortex.2013.05.011. Epub 2013 Jun 12. PMID: 23831432.
Ihara AS, Nakajima K, Kake A, Ishimaru K, Osugi K, Naruse Y. Advantage of Handwriting Over Typing on Learning Words: Evidence From an N400 Event-Related Potential Index. Front Hum Neurosci. 2021 Jun 10;15:679191. doi: 10.3389/fnhum.2021.679191. PMID: 34177498; PMCID: PMC8222525
Kiefer M, Schuler S, Mayer C, Trumpp NM, Hille K, Sachse S. Handwriting or Typewriting? The Influence of Pen- or Keyboard-Based Writing Training on Reading and Writing Performance in Preschool Children. Adv Cogn Psychol. 2015 Dec 31;11(4):136-46. doi: 10.5709/acp-0178-7. PMID: 26770286; PMCID: PMC4710970.
Handwriting vs typing: is the pen still mightier than the keyboard? in: The Guardian, 16. Dezember 2014